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Nessy
Jetzt sitze ich hier. Fossie liegt mir auf der Schulter und erfreut sich über die Cheftrainer-Position in Reihe 1 im Reisebus und genießt ein bisschen Beinfreiheit. Und ich überlege, wie ich den gestrigen Tag beschreiben kann. Das Ziel ist erreicht – und natürlich war das alles nur ein „Spiel“, wenn man bedenkt, dass wir jetzt unsere gelaufenen Kilometer mal eben in drei Stunden mit dem Bus wieder zurückfahren. Aber das Ganze ist eben doch nicht nur Wandern und Einkehren im Repeat-Modus.
Die letzte Etappe hat uns fast all die Mitpilger wiedersehen lassen, die wir auf unserem Weg getroffen haben. Mit einigen haben wir uns wirklich immer wieder nett unterhalten, manche haben nur gegrüßt. Der Mensch an sich suggeriert ja, wenn er nicht reden will ;-) So war es mega interessant zu sehen, dass aber auch diese Mitpilger woanders Anschluss gefunden hatten. Jeder Topf findet seinen Deckel.
Auf dieser Etappe haben wir uns Zeit genommen – zwischendurch sind wir immer wieder eingekehrt oder haben den Musikerinnen am Wegesrand zugehört. Einen tollen Stempel aus Wachs durfte auch noch in unser Stempelbuch einziehen.
Auf den letzten Metern gab es auch eine Gruppe von ganz jungen Pilgern – in einem uns sehr bekannten Alter. Das war schön anzusehen, wie unbekümmert die auch waren und mit nackten Füßen, oberkörperfrei durch die Wälder spazierten. Zwischendurch wurde gesungen und gekifft. Es war wunderbar.
Ab Kilometerstein 5 wurde es dann auf einmal ruhiger. Man merkte, dass wohl jeder noch einmal kurz vor dem Einlauf ein Päuschen gemacht hat.
Wir entschieden uns an der letzten Gabelung für den längeren und traditionellen Weg über Por Conxo– und dann standen wir da.
Nach über 280 km… Ziel erreicht… und ich weiß nicht, ob einige von euch schon mal Videos von diesem Moment auf Social Media gesehen haben, aber ich kann sagen: Es ist genauso.
Fossie und ich lagen uns in den Armen, es wurde uns auf die Schulter geklopft und „You made it!“ gerufen. Wir hatten die Tränen in den Augen stehen – und dann war es so. Wir haben’s gemacht, geschafft, vollendet.
Man bringt so viel im Leben nicht zu Ende, vor allem ich – und deswegen war das, losgelöst von all dem, was diese Reise ausgemacht hat, ein unbeschreibliches Gefühl.
Und dann siehst du all diese Menschen, die jeder für sich eine Geschichte haben und einen Beweggrund, warum sie diese Reise gemacht haben – und es ist egal, ob aus religiösen Gründen, um zu sich zu finden, aus sportlichem Ehrgeiz oder einfach nur, um sich zu beweisen, dass man sowas schafft und kann… oder weil man die Landschaft toll findet ;-)
Unserer war sicherlich eine Kombination aus all dem.
Nachdem wir dann viele Fotos von uns und anderen gemacht haben, ging es zum Pilgerbüro – oder auch „Oficina de Acogida al Peregrino“ genannt –, um unsere Pilgerurkunde abzuholen.
Wie auf dem Bürgeramt erhielten wir dort eine Nummer – aber, und das ist nicht wie auf dem Bürgeramt: Nach fünf Minuten hielten wir unsere Urkunden in den Händen. Verewigt und offiziell besiegelt, dass wir 280 km von Porto bis Santiago gepilgert sind.
Mit der Rolle Urkunden im Gepäck hatten wir dann zunächst nur einen Wunsch: den Rucksack loswerden ;-) und Duschen stand auch ganz oben auf der Liste.
Man fühlt sich so federleicht an, wenn man den Rucksack abgelegt hat – wir denken, wir werden zu Hause ab sofort alles zu Fuß und mit Rucksack erledigen, damit sich die aufgebauten Muskeln nicht wieder verabschieden (-;
Geduscht und leicht wie eine Feder haben wir uns dann zum ersten Mal den Luxus gegönnt, uns von einem netten Taxifahrer zurück zur Kathedrale fahren zu lassen – unser Ziel: die Pilgermesse um 19:30 Uhr.
Bereits um 18:45 Uhr nahmen wir Platz und beobachteten das Treiben in der Kathedrale. Alle paar Minuten ertönte ein Orgelspiel und eine Stimme bat mit „Silencio, por favor“ um Ruhe.
Auf den Bildern der Kathedrale könnt ihr eine Besonderheit dieser Kirche erkennen:
Der Botafumeiro – ein riesiges Weihrauchfass.
Er wird bei besonderen Anlässen oder Messen von acht Männern an einem langen Seil durch die Kathedrale geschwenkt.
Ob er geschwenkt wird, ist ungewiss – nur zu besonderen Anlässen oder wenn jemand eine großzügige Spende abgegeben hat.
Die Messe begann also, und wir glauben, zunächst hat der Priester die Nationen aufgezählt, die heute in Santiago eingelaufen sind.
Die Betonung liegt auf glauben, weil wir als alte Spanier mit gescheiterten Lateinkenntnissen natürlich weniger als gar nichts verstanden haben. Doch natürlich haben wir oft Teile der Liturgie wiedererkannt und konnten sie gedanklich mitgehen.
Tja, und dann… dann war eigentlich schon das Schlussgebet angesagt… doch dann kamen acht im Gewand gekleidete Männer und begannen, den Botafumeiro in Bewegung zu setzen.
Ein wirklich bewegender Moment – und wir sind sehr dankbar, das erlebt haben zu dürfen.
Zu guter Letzt darf ich euch noch mitteilen, dass der Engländer eigentlich Australier ist und heute nach Casablanca fliegt.
Es kam leider zu keinem Tanz, aber wir hatten ihn im Arm – und er hat sich über unsere T-Shirts wieder sehr gefreut.
Dieser wundervolle Tag endete mit Bier, Sangria und Paella – und hätte besser nicht enden können.
Gerade machen wir Halt in Vigo, und während ich diese Zeilen geschrieben habe, ist die Landschaft an uns vorbeigezogen, die wir erwandert haben.
Es war eine wunderschöne Reise!
Die Abschlussworte von Fossie erhaltet ihr dann heute oder morgen früh.
Danke, dass ihr uns begleitet habt.
Alles Liebe!
Nessy
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LG